Auf der Suche nach dem Augenblick der Wahrheit

From Bottom to Top: Flamencotheater à la Catarina Mora ist ein Fest für Sinne und Verstand

Namhafte Künstler aus Spanien, München, Düsseldorf und Berlin sind zum 1.Stuttgarter Flamencofestival gekommen. Höhepunkt ist die Uraufführung „A las 5 de la tarde“. Im ausverkauften Theaterhaus entfacht das Stück an zwei Abenden Begeisterungsstürme. Fern von Spanienklischees kommerzieller Formate oder technischer Hochleistung als Selbstzweck belebt Flamenco pur vom 2. bis 6. August die Stuttgarter Tanzlandschaft. Workshops, das Jugendprojekt „Flamenco migracion“ von Rebekka Schäfer, ungeschnittenes Originalmaterial des Films „Flamenco mi vida spezial“ von Peter Sempel, informelle Gespräche und Präsentationen der Kursergebnisse sowie eine Fiesta im neuen Stuttgarter Produktionszentrum runden das gelungene Festival ab.

Von Leonore Welzin

Einmal mit dem Fuß aufstampfen, dass die Erde bebt. Von Fernost über Indien bis Andalusien, haben Tänzer das Treten, Stampfen, Trappeln und Klopfen der Erde praktiziert und über Jahrtausende kultiviert. Doch wer heute kulturelle Fußarbeit neben kulturelle Kopfarbeit stellen möchte, hat es (in der westlichen Hemisphäre) nicht leicht. Hier herrschen Hierarchien, in denen das Oben dominiert, die Kopfstimme sich über alles unterhalb der Gürtellinie erhebt und lieber den Ruck predigt, der durch die Gesellschaft gehen soll, als sich nach Kulturpraktiken umzuschauen, in denen Kraftpotentiale von unten aktiviert werden - from bottom to top statt from top to bottom, also von unten nach oben statt anders herum.
Im Flamenco - wie in vergleichbaren, will heißen artverwandten Tanztraditionen Indiens und Japans - steckt ein weltkulturelles, urdemokratisches Erbe. Das gilt es neu zu entdecken. Auf dieser Entdeckungsreise befindet sich seit über 15 Jahren Catarina Mora, die mit eigenem Ensemble den Flamenco aus der folkloristisch-touristischen Sackgasse lockt, mit tanztheatralen Elementen anreichert und in Produktionen wie „Don Juan“ oder „Machismo“ Rollenmuster hinterfragt, Konventionen moderat gegen den Strich bürstet und immer wieder neue Künstler einbezieht.

Neben den Tänzern Miguel Angel, Joaquin Ruiz und Inmaculada Ortega sind die Sänger David Vasquez und Pedro Sanz sowie die Gitarristen Antonio Espanadero und Fernando de la Rua mit von der Partie. Entwickelt hat Mora (Idee, künstlerische Leitung) das Konzept im Dialog mit der Choreografin Verena Weiss (Regie, Dramaturgie). Ausgehend von Federico Garcia Lorcas berühmtem Gedicht „A las 5 de la tarde" hat das Duo Mora/Weiss ein inhaltlich starkes, atmosphärisch dichtes Stück geschaffen, das magische Wirkung entfaltet.

„A las 5 de la tarde", fünf Uhr nachmittags, laut Lorca die Stunde des Todes. Der Stier wird aus völliger Dunkelheit ins Licht der Arena geschickt. Geblendet und ohne Orientierung reagiert er unberechenbar. Beide, Toro und Torero, sind im Augenblick der Wahrheit ausschließlich auf ihre Intuition angewiesen.

Das Bild des Stierkampfes als Metapher für innere Kämpfe, haben Mora und Weiss mit Inmaculada Ortega, Joaquin Ruiz und Miguel Angel in Madrid in nur zehn Probentagen erarbeitet. Flankiert vom stimmstarken Sänger- und Komikerduo Vasquez / Sanz, sowie den erstklassigen Gitarristen Espanadero / De la Rua sind die Soli „Alegria“, „Siguiriya“ und „Solea por Buleria“ in der Kürze der Zeit zu einem fulminanten 80-minütigen Stück gereift, das sich sowohl auf den überpersönlichen Wesenskern des Tanzes konzentriert als auch individuelle Stärken der Solisten herausholt: rasierklingenscharf sind Timing und Fokus von Ruiz, ekstatisch rasant sind die vielfältigen rhythmischen Cluster, die Angel in einer improvisierten Apotheose förmlich aus dem Körper schüttelt, faszinierend schließlich sind Ortegas Arm- und Handführungen, ihre geschmeidig aus der Achse gekippten Drehungen und die Skala ihrer Verwandlungsfähigkeit.

„Ein Stolperstein war die Konstellation: eine Frau und zwei Männer. Man denkt sofort an Gockelkampf und fragt: Wer macht das Rennen?“ erklärt Verena Weiss. Ihr gehe es nicht um vordergründige Rivalität, sondern um die Kraft dahinter, um die Aspekte Körper, Geist und Seele, um das Tauziehen zwischen männlichem und weiblichem Prinzip. Im Spannungsfeld von Ratio und nicht zu kontrollierender Naturgewalt hat die Frau emotionale Ausbrüche und die Frage ist: Wie reagieren die Männer auf dieses Phänomen?

Auf der einen Seite der Provokateur, der den Bogen auch mit seiner Virtuosität so überspannt, dass selbst das Publikum denkt, die Grenze ist erreicht, mehr geht doch gar nicht! Auf der anderen Seite der Verführer, der Annäherung sucht. Er tanzt, laut Catarina Mora „Auch sehr stark und wild. Aber in seinen Stopps nimmt er den Schlag auf und führt ihn weiter. Das ergibt das Gefühl eines Gedanken, der nicht anhält, der weiter fließt, als ob er in sich ein Ja und ein Nein, ein Vielleicht oder Doch enthält“.

Hochspannend und von einer eigenen Poesie getragen ist die Kombination aus Flamenco und Tanztheater. Diese Fusion sei für sie nicht neu, sagt Inmaculada Ortega. Einzig neu sei die abstraktere Auffassung des Inhalts und des Rollenverständnisses: „Im Flamenco sind die Geschichten realer, eine lineare Erzählstruktur wie im Film, von Anfang bis zum Ende“. Das realistische Konzept, das sie vom Flamenco gewohnt sei, vermittele eine gewisse Sicherheit: „Du spielst beispielsweise eine klar definierte Rolle, aber nicht verschiedene Konzepte in einer Person. Die ständigen Metamorphosen von einer Frau in ein Tier, vom Stier, zur Mutter, zur Schlange, das war schwierig und ich musste mit mir kämpfen, um in diese Rolle zu finden“.

Die Fusion aus abstrakt zeitgenössischer Konzeption und dem realistisch-narrativen Stil des Flamencos macht für Ortega rückblickend Sinn. Kämpfen, um die Rolle zu Finden, ganz im Sinne des Regiekonzeptes, das nicht etwas Konventionelles reproduzieren möchte, sondern, auf der Suche nach dem Augenblick der Wahrheit, das Kreative Potential im Tänzer mobilisiert. Das Stuttgarter Publikum honoriert den gewagten Balanceakt samt inszenatorischer und darstellerischer Leistungen, es springt am Premierenabend wie entfesselt von den Sitzen und entfacht einen viertelstündigen Beifallssturm.

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